
Von Tiny Houses, gutem Leben und der Kunst, sich auf die wichtigen Dinge im Leben zu fokussieren
Wisst ihr noch? In MOMENT 3/2019 haben Lea und Pierre, damals 24 und 26, uns von ihrem Wohntraum erzählt: einem Tiny House auf 31 Quadratmetern. Seit dem Sommer wohnen der Grafikdesigner, die Ausbilderin für Damenschneiderinnen und ihre Tochter Juno in ihrem Einraumtraum „Holger“ mitten in den Schweizer Bergen.
Hier könnt ihr noch einmal nachlesen, wie sie vor dem Einzug unsere neugierigen Fragen beantwortet haben …
Liebe Lea, lieber Pierre, wer ist Holger?
Lea (lacht): Als wir begonnen haben, unseren Besitz zu verkleinern, haben ganz viele Dinge einen neuen Wert bekommen. Als dann unser Traum feststand, dass wir ein Tiny House wollen, war klar, dass dieses Riesenprojekt einen Namen braucht. Unsere Eingebung war, dass das ein „Holger“ sein wird.
Wir lange seid ihr mit dieser Idee schon unterwegs – und wie seid ihr darauf gekommen?
Pierre: Vor etwa 2,5 Jahren haben wir auf Netflix eine Serie gefunden, „Documentary about important things“. Darin ging es um zwei Minimalisten aus Amerika und um die Frage: Wie nutzen wir unsere Räume, wie sind wir mit unseren ganzen Sachen unterwegs? Dort wurden tolle neue Raumaufteilungskonzepte vorgestellt, aber auch Tiny Houses. Das wäre etwas Schönes, dachten wir … Hinzu kam noch: Wir lebten damals in einer 4,5 Zimmer-Wohnung auf 80 m Quadratmetern. Dort haben wir uns v. a. in zwei Räumen aufgehalten: In einem habe ich und in einem hat Lea gearbeitet. Abends haben wir dann etwas gekocht, beide unser Essen genommen – und waren wieder im Zimmer. Das fanden wir kein schönes Zusammenleben mehr. Deshalb sind wir in der Wohnung näher zusammengerückt, indem wir unsere Büros zusammengenommen haben. Dabei haben wir festgestellt, dass wir die anderen Zimmer – Ess- und Wohnzimmer usw. – im Alltag gar nicht gebraucht haben. Diese Räume haben wir dann zugesperrt und uns eine neue Wohnung gesucht – mit 38 Quadratmetern. Inzwischen wohnen wir sogar auf 16 Quadratmetern: in einem kleinen Studio mit Küche und Bad.
Lea: Vor dem ersten Umzug haben wir begonnen, einfach mal auszumisten. Angefangen haben wir beim Kleiderschrank, weil es da ziemlich schnell geht. Du weißt einfach: Worin fühlst du dich wohl und was hütet nur den Kleiderbügel? Mir ist zum Beispiel wichtig, zu wissen: Ich habe nur zwei Paar Hosen, weil ich nicht mehr benötige.
Uns geht es um die Liebe zum Gegenstand.
(Pierre)
Pierre: Ich schaue, wie lange ich eine Sache nicht mehr gebraucht habe. Wenn das länger als ein Jahr ist, kann ich sie meistens weggeben. Wenn wir unsicher sind, fragen wir uns manchmal gegenseitig: „Glaubst du, ich kann das nochmal brauchen?“ Uns geht es um die Liebe zum Gegenstand: Wenn man noch daran hängt, soll man ihn auch nicht weggeben. Insofern sprechen wir eher von „Essentialismus“ als von „Minimalismus“: Es geht uns nicht darum, nur noch 60 oder 100 Dinge zu besitzen, sondern die Sachen, die wir wirklich brauchen. Damit verbieten wir uns auch nicht, Neues zu kaufen, sondern wir fragen uns einfach: Brauche ich das jetzt wirklich oder muss ich es haben, weil ich es vielleicht bei einem Freund gesehen habe?
Was macht die Faszination Tiny House für euch aus?
Lea: Am Tiny House hat uns der Aspekt gefallen, dass das auf Rädern steht, d. h. man ist nicht so ein Lebensnomade wie mit einem Wohnmobil, hat aber immer noch die Möglichkeit, irgendwann auch nochmal weiterzuziehen. Zum anderen fanden wir es schön, alles, was man besitzt, auf einmal zu sehen. Wir haben einfach das Gefühl: Wenn man viele Dinge besitzt, wird man schwer. Wenn du einen Raum hast, in dem alles vollgestellt ist, gibt es so viele Sachen, die dich erwartungsvoll anschauen: „Bitte benutz mich mal wieder …“ Je mehr Platz du hast, desto mehr kannst du dir erlauben, Dinge zu horten und Entscheidungen hinauszuschieben. Ich habe das Gefühl, wir können durch unseren Freiraum viel freier entscheiden, was wir machen wollen. Der gibt auch so viel Ruhe im Leben – weil alles seinen Platz hat.
Holgers Stellplatz
Hat das Zusammenrücken in der Wohnung auch in eurer Beziehung etwas verändert?
Lea: Das hat viel verändert – schon allein, weil du dich nicht einfach zurückziehen kannst … Du hast nicht so die Möglichkeit, einen Konflikt aufzuschieben, sondern musst viel direkter handeln und dich aussprechen. Wir haben eigene Taktiken für uns entwickelt, wie wir damit umgehen können, wenn es einem mal zu bunt wird.
Inzwischen habt ihr Holger in Auftrag gegeben – euren Wohntraum auf 31 Quadratmetern. Was war euch bei der Planung wichtig?
Lea: Uns war wichtig, dass das Wohn- bzw. Raumgefühl stimmt und nicht so verschachtelt und bedrückend ist. Außerdem wollten wir etwas Nachhaltiges, Autarkes. Weißt du, was Autarkie ist?
Ich denke, dass das Haus keine Abfälle produziert und selbstständig, also durch eigene Stromproduktion und Abwasserrecycling, bestehen kann. Oder?
Pierre: „Autarkie“ bedeutet eigentlich „Unabhängigkeit“.
Lea: Wir haben unsere eigene Photovoltaik-Anlage auf dem Dach, die für Strom sorgt. Mit einem kleinen Holzofen können wir heizen. Nur beim Wasser sind wir wegen der gesetzlichen Vorschriften nicht voll autark, aber selbst das würde funktionieren.
Pierre: Gerade die Autarkie hat für mich mit der großen Frage zu tun: Was für eine Welt hinterlasse ich als Mensch? Was für eine Welt hinterlassen wir unserem Kind? Für uns wird diese Frage nochmal stärker, weil wir gerade Eltern werden dürfen. Unser Umfeld hat oft das Gefühl, dass wir richtige Ökos seien. Aber wir wohnen topmodern, unsere Jobs sind modern und wir schrecken jetzt auch nicht davor zurück, einen Apple-Laptop usw. zu kaufen. Uns ist einfach wichtig, darüber nachzudenken, wie man einen Rohstoff sinnvoll nutzt und auch wiederverwenden kann.

Könnt ihr uns mal eine virtuelle Führung durch euer Tiny House geben?
Pierre: Man kann sich einen 10 Meter langen, an den Ecken abgerundeten Zirkuswagen mit Flachdach vorstellen – ähnlich wie ein Zugabteil. Vorne in der Mitte ist eine sehr große Verglasung, die auch gleichzeitig der Eingang ist. Unser Wagen enthält außerdem einen verbauten Erker, den man – wie ein Tetris-T – als Raumerweiterung nach außen schieben kann. In der linken Ecke des Wagens befindet sich der Schlafbereich. Unter unserem Bett gibt es Schubladen als Stauraum.
Lea: Rechts, in der Rundung, wird das Badezimmer sein, mit einer großen Dusche und einem Steinmosaik. Das ist übrigens der einzige Bereich, der mit einer Schiebetür abgetrennt ist. Vor dem Badezimmer sind die Küche – mit Waschmaschine, Gasherd, Kühlschrank – und unser Ofen. Gegenüber des Eingangsbereiches werden eine Art Eckbanksofa, das auch zu einem Gästebett erweitert werden kann, mit Esstisch und einer kleinen Garderobe und vielleicht noch ein Arbeitsplatz sein. Dazu viele Fenster. Die Materialien sind alle organisch, es wird viel mit Holz und Lehmputz gebaut.
Pierre: Das ist uns wichtig: Mit welchen Materialien umgeben wir uns? Und mit welchen Menschen umgeben wir uns? Es ist ja so: Die fünf Leute, die du um dich herum hast, prägen dich. Das muss jetzt überhaupt nicht negativ sein …
Apropos Leute: Wie hat euer Umfeld auf eure Idee vom Tiny House reagiert?
Pierre: Gespalten. Eine Diskussion, die wir oft führen mussten, war: „Zu zweit in so einem kleinen Raum leben, das geht ja gar nicht. Und was ist, wenn euer Kind ein eigenes Zimmer haben möchte?“ Aber wir sind das so gewöhnt. Und vor 50 Jahren haben die Leute noch auf halb so viel Raum gelebt wie heute.
Lea: Auch heute gibt es dazu ja verschiedene Modelle. Dass jedes Kind normalerweise ein eigenes Zimmer hat, ist v. a. in unseren Breitengraden so und in südlichen Ländern schon wieder ganz anders. Viele Dinge wissen wir einfach noch nicht – die werden sich zeigen und wir sehen dann, was wir brauchen. Wenn unser Kind irgendwann das Bedürfnis nach einem eigenen Zimmer hat, werden wir bestimmt eine Lösung finden. Wir wollen unseren Kindern Achtsamkeit und das Bewusstsein, wo die Dinge herkommen, mitgeben, aber ohne, dass sie darunter leiden.
Pierre: Wir sagen immer: Wir machen uns keine Sorgen auf Vorrat. Wir wissen nicht, was für ein Mensch unser Kind wird, wir wissen nicht, wie wir uns entwickeln. Das ist unberechenbar. Warum sollen wir uns jetzt damit befassen? Warum dürfen wir nicht jetzt den Moment so annehmen, wie er ist? Und so achtsam miteinander umgehen, wie es im Moment gerade geht …

Wir machen uns keine Sorgen auf Vorrat.
(Pierre)
Ist euch eure Haltung zur Schöpfung in die Wiege gelegt worden oder wodurch wurde sie geprägt?
Lea: Ich war früher mit meinem Vater oft zelten. Ich gehe gern in die Natur, aber dort wird echt viel zerstört – davon will ich kein Teil sein. Dieses Bewusstsein ist mir schon ein Stück weit mitgegeben worden. Mit anderen Aspekten – Ernährung zum Beispiel – habe ich mich erst in den letzten Jahren beschäftigt. Wir versuchen es halt so, wie es geht und so, dass wir noch Spaß daran haben. Eigentlich ist es ja auch etwas Schönes, wenn man weiß: Ich schade so wenig wie möglich …
Pierre: Bei mir sind verschiedene Dinge zusammengekommen. Ich bin von klein auf in den Lagern der Schönstatt Jungs gewesen. Dort kommst du als Kind in eine ziemlich coole Auseinandersetzung mit dir, mit deinem Glauben und mit Gott. Das war für mich eine krasse Erfahrung: das Feuer zu sehen, in der Natur zu sein, ihr ausgesetzt zu sein. Das alles ist ja einfach da und so geschaffen. Das andere war, mich mit Fragen auseinanderzusetzen: Warum bin ich überhaupt hier? Was will Gott von mir? Wo geht mein Weg hin? Wie möchte ich als Mensch sein? Ich habe für mich z. B. ziemlich früh entschieden, Vegetarier zu werden. Ich habe einfach das Gefühl, dass Gott mir sagt: Ich muss nicht Lebewesen, die auf vier Beinen herumgehen und vielleicht sogar noch für mich gezüchtet werden, töten lassen und essen. Da musste ich mir in den Lagern dann auch ziemliche Diskussionen liefern ;-).
Wie stark bestimmt der Gedanke des Essentialismus euren Alltag?
Lea: Er ist definitiv eine Lebenseinstellung. Du begibst dich damit in einen großen Prozess. Du mistest ja nicht einfach nur aus, sondern überlegst immer: Warum mache ich das? Was möchte ich mir Neues anschaffen? Ich würde das als „Achtsamkeit fürs ganze Leben“ beschreiben. Denn jede Handlung, alles, was du kaufst oder machst, ist ja immer eine Entscheidung. Es geht darum, zu überlegen: Was hat das jetzt für Konsequenzen?
Zugleich entlasten Routinen uns im Alltag ja auch. Wenn man anfängt, über alles ewig nachzudenken, kann einen das auch schnell überfordern, oder?
Lea: Genau. Es gab Phasen, in denen wir uns gleichzeitig mit Veganismus, Minimalismus und anderem beschäftigt haben. Das war alles auf einmal zu viel. Ich denke, es ist gut, wenn du dich von einem Bereich zum nächsten schlängelst und das machst, was gerade passt und woran du Spaß hast. Routinen können sich jedenfalls verändern – zum Beispiel beim Einkaufen. Sich da umzustellen, ist so ein Prozess von 2-3 Wochen. Dann greifst du ganz automatisch an die neue Stelle im Regal.
Pierre: Ich habe in der Schweiz sehr viel mit den Schönstatt-Patres und den Schönstätter Marienschwestern zu tun gehabt und mich damit auseinandergesetzt, wie sie leben. Wenn du ein spirituelles Leben führst und dich auf die Suche nach deinem Auftrag machst, danach, was du bewegen sollst, dann ist das Ganze eine Einstellung. Dann fehlt dir nichts, wenn du weniger besitzt. Denn dann geht es ja nicht mehr um „ich will das jetzt haben“, sondern um: „Brauche ich das, brauche ich es nicht?“ Ich finde, dass sich mein Leben eher im Sinn von „spirituell leben“ verändert hat. Im Reflektieren merke ich: Ich muss das nicht besitzen. Dadurch habe ich wirklich Freiheit. Ich bin frei, wenn ich das und das nicht habe, denn mein Auftrag ist anders. Mich begleitet schon lange die Frage nach dem Persönlichen Ideal: Wofür bin ich da? Was kann ich? Und dem bin ich in den letzten Jahren so ein bisschen auf die Spur gekommen. Dadurch haben sich Stellen neu gefüllt. Früher war ich viel in Burnout-Phasen. So müde. Jetzt mache ich mehr Dinge, die in dem Moment nicht „greifbar“ sind, und beschäftige mich mehr mit mir selbst.
Es ist ja immer auch die Frage, wie der eigene Glaube konkret und greifbar wird …
Lea: Wir sind jetzt nicht Missionare, …
Pierre: … die sagen: Wir sind die Besten und ohne uns würde die Welt untergehen.
Lea: Sondern ich glaube, diese Dinge bieten den Boden für einen selbst, um mit sich im Reinen zu sein. Ich habe das Gefühl, man wird ein bisschen feinfühliger …

Pierre: Ja, man wird verletzlicher, wenn man mehr ehrliche Dinge in seinem Leben verfolgt, die einen auch berühren. Gott ist für mich schlussendlich Liebe. Und Liebe versuche ich überall in meinem Leben weiterzugeben. Darum möchte ich kein Tier leiden wissen, genauso wenig wie ich dir etwas Schlechtes sagen möchte.
Lea: Die Entscheidung, vegan zu leben, ist für mich ein Weg, wie ich Liebe in die Welt tragen kann. Für dich ist es vielleicht etwas anderes – und dann ist es nicht schlimm, wenn du das anders machst.
Pierre: Deswegen können wir nicht extrem sein. Was will ich an jemand, der Fleisch isst, hassen oder was will ich ihm böse sein? Ich kann einfach Licht für ihn sein und fertig …
Lea: Oder auf Augenhöhe mit ihm ins Gespräch kommen. So öffnen sich vielleicht für andere Menschen Türen, die für uns schon ganz offenstehen. So kann man gemeinsam ein Stück des Weges gehen – und dann trennt es sich wieder.
Da merkt man ja auch, dass es in dieser komplexen Welt gar nicht ohne Ab- und Zugeben geht …
Pierre: Doch, es würde gehen. Aber dann schottest du dich extrem ab. Dann würden wir wahrscheinlich in einer kleinen Hütte im Wald wohnen und Pilze essen (lacht).
Lea: Es geht ja nicht darum, dass ein Mensch es perfekt macht, sondern tausende Leute ein bisschen besser. Das kannst du nicht, wenn du dich abschottest. Der Austausch mit anderen ist auch eine Bereicherung. Wenn du immer nur in deinem kleinen Kabäuschen bist, kommst du nur beschränkt weiter.
Es geht nicht darum, dass EIN Mensch es perfekt macht, sondern tausende Leute ein bisschen besser.
(Lea)
Und wenn ihr im Wald leben würdet, hätten wir heute kein Interview machen können!;-) Euer Schlusswort?
Lea: So ernst und so extrem die Themen auch sind: Man sollte nicht den Spaß an der Sache verlieren, sondern einen Weg finden, wie man gut leben kann.
Pierre: Ich würde sagen, dass man auf die Suche nach seinem eigenen, wahren Ich gehen sollte. Wenn das alle machen würden, dann würde unsere Welt anders aussehen.
Vielen Dank, Lea und Pierre!
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