
Nach dem Studium direkt in die Berufsausbildung gehen? Das kam für Lena, 27, aus Friesoythe nicht infrage. Anfang 2020 hat sie ihr Lehramtsstudium für die Fächer Englisch und katholische Religionslehre beendet – und einen urpersönlichen Weg eingeschlagen … Ein Interview aus MOMENT 3/2021.
Fotos: privat
Lena, während viele Lehrämtler nach dem Studium Bewerbungen für das Referendariat schreiben, kam es bei dir irgendwie anders: Du hast deine Koffer gepackt.
Ja, genau. Dem ging eine ziemlich schwierige Entscheidung voraus: Schon während meines Studiums bin ich viel gereist, allerdings nie allein. Außerdem war ich durch ein Auslandssemester, das ich im Rahmen meines Studiums machen musste, bereits ein Jahr hinter meinen Kommilitoninnen. Das machte mir Druck – dazu kam die unterschwellige Erwartung meiner Eltern, jetzt auch mal ins Referendariat zu gehen.
Dazu kam die Sehnsucht, mein Leben so zu leben, dass ich nicht am Ende sagen muss: „Hätte ich mal …“
Aber wenngleich ich meine Fächer leidenschaftlich gern studiert hatte, fühlte ich mich einfach noch nicht nach Ref. Dazu kam für mich die Sehnsucht, mein Leben so zu leben, dass ich, wenn ich am Ende nicht sagen muss: „Ach, hätte ich mal …“ Schon in Zusammenhang mit meinem Auslandssemester hatte mich mein Bauchgefühl nicht getrogen. Jetzt hatte ich wieder so ein Gefühl – und das Einzige, was mich zurückhielt, sollte die Erwartung sein „du musst jetzt dein Ref machen, dir ein Auto kaufen und dein Leben festigen“?! Mein Gott, das kann man doch auch noch mit 30 machen! Also nahm ich all meinen Mut zusammen und erzählte meinen Eltern unter Tränen von meiner Idee, auf Reisen zu gehen. Im November 2019, zu einer Zeit, in der von Corona noch keine Rede war, entschied ich dann, nach dem Studienabschluss erst mal ins Ausland zu gehen – sechs Monate bis ein Jahr, je nachdem wie lange mein Budget reichen würde. Denn für meine Eltern war schon ganz klar: „Lena, wenn du reisen willst, dann ist das deine eigene Sache.“ Einen richtigen Plan hatte ich für meine Reise nicht. Ich wusste die erste Station – den Rest fand ich mit der Zeit heraus.
Hattest du denn eine Idee, was der Inhalt dieser Auslandszeit sein sollte, oder bist du einfach losgefahren?
Zuerst habe ich nach Freiwilligendiensten gesucht. Allerdings ist das relativ teuer. Beim Weiter-Recherchieren fand ich dann die Webseite „workaway“: Das ist ein bisschen wie ebay-Kleinanzeigen für Leute, die für ihre Projekte Freiwillige suchen. Da ich vegan lebe, gab ich das mit ins Suchfeld ein, ebenso zwei Länder. Eines davon war Israel. Die einzige Anzeige, bei der ich ein gutes Bauchgefühl hatte, stammte von einer israelischen Familie, die aus einer Französin mit Englischkenntnissen, ihrem israelischen Mann und deren Kindern bestand. Sie wünschten sich jemand, der ihnen im Haushalt helfen und den Kindern – zu diesem Zeitpunkt elf und zwölf Jahre alt – ein bisschen Englisch beibringen könnte. Weil sie angegeben hatten, manchmal vegan zu kochen, dachte ich, dass sich aus meiner Ernährung kein Problem für sie ergeben würde. Also schrieb ich sie an. Es passte alles. Ich hatte eine innere Sicherheit wie bisher ganz selten in meinem Leben (im Rückblick kann ich mit 100%iger Sicherheit sagen, dass ich da geführt worden bin).

So flog ich am 04. März 2020 los. Nach meiner Landung und einem kurzen Nickerchen hieß es: Ich muss in Quarantäne. Damals war das noch niemand ein Begriff und so dachte ich zunächst, ich müsse ins Krankenhaus in einen abgeriegelten Glaskasten, wie man das aus Filmen kennt. Aber es war nur eine zweiwöchige Heimquarantäne. Ich war also quasi in den Lockdown hineingeflogen.
Vor Ort arbeitete ich vier Stunden täglich bei der Familie, dafür konnte ich dort essen und schlafen. Geplant war ein freier Tag (oder zwei) in der Woche – Zeit, die ich eigentlich zum Reisen nutzen wollte. Wegen des Lockdowns ging das jedoch nicht. Also blieb ich zunächst komplett bei der Familie. Nur um die Osterzeit herum wollte ich unbedingt nach Jerusalem. Ich fuhr einfach hin, schlenderte dort herum und versuchte sogar, mich in die Altstadt zu schleichen. Das war ganz verrückt. Natürlich war ich relativ traurig, dass zunächst alles nicht so klappte, wie geplant. Doch Ende Mai wurden die Regelungen so gelockert, dass ich eine abgespeckte Version meines geplanten Roadtrips machen konnte. Ich reiste in alle wichtigen Städte und Orte. Das gab mir unglaublich viel.
Nochmal kurz zurück: Weißt du noch, mit welchen Erwartungen du losgeflogen bist?
Grundsätzlich wollte ich einfach rauskommen, etwas anderes sehen. Und ich hatte schon das innere Bedürfnis, gerade nach Israel zu gehen: Ich habe ja Theologie studiert. Das ist für mich unglaublich wichtig. In meinem Studium und durch Freunde bzw. Kommilitonen hatte ich auch den Islam schon gut kennenlernen dürfen. Aber ich wusste praktisch nichts übers Judentum – jedenfalls nicht mehr als das, was man in Schulbüchern kennengelernt hat. Jetzt wollte ich die Mutterreligion, von der wir irgendwie alle herkommen, kennenlernen. Was ist das Judentum eigentlich und wie leben Juden? Welche Feste feiern sie, welche Bräuche haben sie, wie ist ihr Leben strukturiert? Diesbezüglich bekam ich in der jüdischen Familie natürlich einen tollen Einblick. Bis heute habe ich eine beste Freundin aus Israel. Wir telefonieren jede Woche und das ist ganz, ganz toll.
Wie hast du diesen Einblick ins Judentum erlebt? Was ist dir besonders aufgefallen?
Ich habe gelernt, dass das Judentum nicht nur – jetzt muss ich aufpassen – eine Religion ist, sondern auch etwas Politisches. Das war mir vorher nicht so bewusst. Ich weiß jetzt, was koscheres Essen ist, wie der Schabbat begangen wird und wie die Feiertage gelebt werden. Ich hatte den Eindruck, dass das für Juden unglaublich weitreichend und tiefgründig ist. Meine Erfahrung in Israel lässt sich vielleicht so zusammenfassen: Wenn man jüdisch ist, dann ist man auch jüdisch.

Man wird da hineingeboren, lebt es dann aber auch in einer großen Überzeugung. Es gibt sehr viele Regeln, aber gleichzeitig auch eine unglaubliche Gemeinschaft, einen großen Zusammenhalt und eine große Sicherheit im Leben, glaube ich. Ich war super beeindruckt von den Menschen … Natürlich gibt es auch einige Dinge, die ich kritisch gesehen und hinterfragt habe, zum Beispiel die Trennung von Mann und Frau. Das konnte ich jetzt nicht so verstehen und darüber gab es dann auch viele Diskussionen am Abendbrottisch. Für diesen gesunden Austausch und diesen Einblick bin ich sehr dankbar.
Wie wirkt sich die Trennung von Mann und Frau aus?
Zum Beispiel ist die Synagoge sehr männlich geprägt. Man braucht zehn Männer für ein Gebet. Die Frauen zählen nicht dazu. Und sie beten meistens auf einer Empore mit, wohingegen die Männer im Hauptraum beten. Oder: Wenn eine Frau ihre Periode hat, gilt sie als unrein und muss sich in einem Bad reinigen, bevor sie wieder mit ihrem Mann schlafen darf. Solche Dinge sind für mich schwer nachzuvollziehen. Der Familienvater, bei dem ich wohnte, erklärte mir, es habe auch etwas Gutes, zu sagen „man reinigt sich, ist mit sich selbst im Reinen“. Ich merkte: Für die Menschen dort haben solche Rituale eine andere Bedeutung als für uns. Sie stellen sie nicht infrage nach dem Motto „das ist jetzt aber nicht feministisch, sondern patriarchalisch“, sondern sie haben für sie ihren Grund. Und dann will ich da auch gar nicht meine Werte hineininterpretieren. Das Meine muss ich dann zurückschrauben.
Für die Menschen dort haben solche Rituale eine andere Bedeutung. Und dann will ich da gar nicht meine Werte hineininterpretieren.
Und wie hast du dich als Christin aufgenommen gefühlt?
Gut, total schwester- bzw. brüderlich. Wir hatten viele Diskussionen, auch über Jesus, in denen auch kritische Fragen wie z. B. „Wie kann es denn sein, dass er auf der Erde war und trotzdem Gott war?“ gestellt wurden. Auch die Dreifaltigkeit war für sie schwer nachzuvollziehen. Ich versuchte das dann mit meinem (Uni-)Wissen, aber auch von meinem persönlichen Glaubensweg her zu erklären. Trotzdem kommt man irgendwann an den Punkt: „Okay, das glaubt ihr, das glaube ich.“ Aber immer mit offenem Ohr und interessiert, nie verschlossen …
Was ist deiner Erfahrung nach hilfreich, um an solchen Stellen, die für beide Gesprächspartner irgendwie existenziell sind, wirklich in ein Gespräch miteinander zu kommen?
Ein absolutes Ablegen von Vorurteilen. Komplette, radikale Offenheit. Zuhören. Und Dinge, die man nicht versteht, manchmal einfach aushalten.

Sich sagen: „Okay, das ist völlig in Ordnung so. Die Menschen, die mir gerade gegenübersitzen, öffnen sich mir und ich öffne mich ihnen mit einem offenen Ohr. Ich akzeptiere jetzt, dass die Sache so ist, wie sie für diese Menschen ist. Ich bin nicht hier, um irgendjemanden zu belehren oder zu missionieren, sondern dankbar dafür, dass sie mir ihre Sichtweise mitteilen. Wenn es gewünscht ist, teile ich dann auch gerne meine Sichtweise mit.“ Und dann heißt es, auszuhalten, dass da eben Unterschiede sind. Das gilt für jede Religion.
Hatte die Begegnung mit dem Judentum auch eine Rückwirkung auf dich, z. B. darauf, wie du auf dein eigenes Christsein schaust? Oder stand beides für dich recht isoliert nebeneinander?
Diese Zeit war immer auch ein Reflektieren von mir selbst. Einiges habe ich tatsächlich für mich übernommen, z. B.: Zum Pessach-Fest gibt es die Tradition, vorher das Haus zu reinigen und alles, was mit Brot oder Getreide zu tun hat, außer Haus zu verbrennen. Man nennt das auf Hebräisch Chamez. Diese Chamez kann man auch symbolisch sehen. Meine jüdische Freundin gab mir folgenden Gedanken mit: „Ich möchte mein Leben von dem Ballast, der darin ist, bereinigen, so wie ich mein Haus von den Chamez bereinige.“ Wir schrieben dann zehn Dinge auf, die uns in unserem Leben herunterziehen. Diese Zettel verbrannten wir – damit lösten sie sich in Luft auf. Unser Ziel war es, diese Punkte bis zum nächsten Mal zu bereinigen. Das habe ich für mich übernommen, weil ich dachte: Das sind so tolle Gedanken – und die sind einfach für mich als Person toll, auch unabhängig von einer religiösen Begründung.
Frageprozesse – und eine ganz aktive Auseinander-setzung mit mir selbst …
Für mein Christsein – das war ja deine spezielle Frage – hat die Begegnung vor allem eines ausgelöst: Frageprozesse und eine ganz aktive Auseinandersetzung mit mir selbst. Glaube ich mit meiner ganzen Vorstellungskraft, dass das in der Bibel Berichtete wirklich so gewesen ist, oder glaube ich es nur, weil es mir immer so erzählt worden ist? Glaube ich wirklich, dass Gott sich selber als Mensch auf dieser Erde in den Stall gegeben hat? Dass Jesus Blinde sehend gemacht und Tote wieder zum Leben erweckt hat? Dass Gott sich in Jesus selbst hat kreuzigen lassen? … Solche Gedanken mache ich mir bis heute und ich weiß noch nicht genau, was ich dazu mit 100%iger Überzeugung sagen kann. Aber ich finde dieses Fragen gut, weil ich mich so selbst mit den Dingen auseinandersetze und nicht einfach nur nachplappere, was ich schon immer gehört habe.
Haben dich deine inneren Anfragen beunruhigt – auch mit Blick darauf, dass du Reli-Lehrerin werden willst und damit dann ja auch irgendwie dafür einstehen musst?
Diese Fragen kamen an sich schon während meines Studiums auf. Bis dahin hatte ich so ein bisschen einen Klein-Mädchen-Glauben: Ich habe das nachgesagt, was ich von Mama, von der Kirchengemeinde oder in Schönstatt gehört habe. Ich habe das Studium dafür verflucht, dass es mich alles hinterfragen ließ, und gedacht: „Mein Gott, Glauben ist doch so einfach!“ Aber das ist es eben nicht. Ich kann mich an eine Situation erinnern, in der ich weinend im Besprechungszimmer einer Dozentin saß und zu ihr sagte: „Frau Sowieso, ich weiß echt nicht, wie ich mich da vorne hinstellen und sagen kann: ‚Das ist so und so.´ Mit manchen Dingen, die die Kirche sagt, bin ich nicht d’accord. Das glaube ich einfach nicht und das kann ich auch nicht vertreten. Da bin ich richtig im Zwiespalt.“ Sie hat mir geantwortet: „Frau Höster, Sie sind nicht der Papst, sondern Gläubige. Jeder hat in der Kirche sein eigenes Kreuz zu tragen. Jeder hat seine eigenen Zweifel und eigene Dinge mit sich auszumachen. Glauben Sie mir: Auch so was ist von Gott geführt. Da müssen Sie sich keine Sorgen machen. Sie dürfen zweifeln und Sie dürfen auch im Unterricht sagen, dass Sie Ihre eigenen Probleme haben. Das macht Sie authentisch.“ Das sind Dinge, die mich auch in Israel weitergetragen haben: zu sagen, ich halte auch die Spannung in mir selber aus.

Ich halte auch die Spannung in mir selber aus.
Nach zwei Monaten bei der Familie bist du dann auf einen vierwöchigen Roadtrip gegangen …
Ja, ich bin zusammen mit einem Israeli, den ich über Couchsurfing kennengelernt habe, im Norden Israels gestartet. Wir sind auf die Golanhöhen gefahren, haben am See von Genezareth gecampt, waren im Jordan schwimmen und haben bei einer Familie übernachtet, der wir als Gegenleistung am nächsten Tag beim Kirschenpflücken geholfen haben. Danach bin ich allein nach Jerusalem gefahren, wo ich endlich auch in die Grabeskirche und auf den Tempelberg gehen durfte. Einige Orte, z. B. der Garten Getsemani, waren coronabedingt noch geschlossen. Aber ich bin selber den Kreuzweg gegangen. Das war total schön, auch wenn es eben nicht so war, wie es in normalen Zeiten hätte sein können. Aber ich konnte alles sehen und bin dafür sehr dankbar. Anschließend bin ich ans Tote Meer gereist, habe im Roten Meer geschnorchelt und Strandurlaub gemacht. In Tel Aviv habe ich dann noch viel Couchsurfing betrieben und Leute getroffen. Das ging trotz Corona relativ gut und war richtig cool. Nach drei Monaten lief mein Touristenvisum ab, doch wegen Corona war es schwer, aus Israel wegzukommen. Drei gebuchte Flüge wurden gecancelt. Meinen endgültigen Ausreiseflug buchte ich in der Nacht vorher (da war ich schon zehn Tage zu lang im Land), um sicherzugehen, dass er auch wirklich startet. Das war ganz verrückt und verursachte mir ein bisschen Panik.

Wohin bist du dann geflogen?
Zu diesem Zeitpunkt wurden nur Den Haag und Wien angeflogen. Niemand wusste, wie sich die Reisesituation entwickeln würde, und so dachte ich: „Wenn ich jetzt zurück nach Deutschland muss, ist Wien noch am nächsten.“ Also flog ich nach Wien. Dort ging ich wegen der Vorschriften in Quarantäne, merkte zugleich aber schnell, dass das niemand so richtig kontrollierte. Ich hatte mich so lange auf dieses Jahr gefreut, dass ich es ehrlich gesagt in Ordnung fand, ein bisschen „unter dem Radar zu fliegen“, wenn es möglich sein würde. Ich spürte einfach: „Es geht noch weiter …“ Von Wien aus reiste ich nach Bratislava, Budapest und weiter nach Athen. Dabei merkte ich, dass mir diese Art zu reisen – sieben Tage hier, sieben Tage da, mal diese Sehenswürdigkeit und mal jene – nicht wirklich gefiel. Begegnungen mit Menschen und das Kennenlernen der Kulturen beschäftigten mich viel mehr als die Besichtigung von Burgen oder Stränden … In Athen lernte ich über Couchsurfing eine junge Frau kennen, die unbedingt nach Mykonos – auf die „Partyinsel“ Griechenlands – wollte. Wir fuhren gemeinsam hin.

Im ersten Strandclub, den wir dort besuchten, bekam ich ein spontanes Jobangebot: Promotion und Animation, vier Stunden täglich für zehn Tage. Das hieß: zwei Stunden am Tag am Strand herumlaufen, die Leute zur Party am Abend einladen und dort dann ihnen etwas trinken, tanzen, irgendwie rumblödeln … Solche Sachen. Also cancelte ich meine Pläne für Spanien und blieb erst mal. Anscheinend erledigte ich meinen Job so gut, dass er letztlich die ganze Saison dauerte, vier Monate bis in den November hinein (lacht).
Das heißt, mit dir kann man Spaß haben.
Ja, absolut (lacht). Die Arbeit im Club hat mir richtig Spaß gemacht. Andererseits war sie auch hart, weil ich keinen Tag frei hatte und vier Monate durchgehend gute Laune brauchte, um Leute zu animieren. Das zehrt natürlich. Weil Mykonos relativ teuer ist, habe ich in einem Wohnwagen aus den Achtzigern gelebt – mit Polstern, die wahrscheinlich ebenfalls noch aus dieser Zeit stammten, und ab und zu mit Ameisen. Also, es war alles andere als komfortabel, aber trotzdem eine prägende Zeit für mich. Ich bin gerne mit Menschen zusammen – und das war dort der Fall. Ich habe einfach so viele Leute aus unterschiedlichen Ländern kennengelernt.

Im November war dann klar: In Europa geht der nächste Lockdown los, außerdem wird’s langsam kalt. Da ich die Bewerbungsfrist für den nächsten Referendariatsbeginn sowieso verpasst hatte und die Vorstellung, im Winter im Lockdown zuhause herumzusitzen, mir wenig zugesagt hat, entschied ich mich, weiter zu reisen. Allerdings konnte man zu diesem Zeitpunkt nur drei Länder bereisen: Afghanistan, Tansania und Brasilien. Afghanistan schloss ich schnell aus.

Meine Wahl fiel auf Brasilien, weil ich zu den Brasilianern, die ich auf Mykonos kennengelernt hatte, direkt eine Connection gehabt hatte. Auch einer meiner Kollegen war Brasilianer. Trotzdem gab es Zweifel: Rio gehört zu den gefährlichsten Städten der Welt; zudem sprechen die Menschen in Brasilien nicht so gut Englisch. Ich aber konnte zu diesem Zeitpunkt noch kein Portugiesisch. Mein Kollege beruhigte mich: Eine Freundin von ihm könne mich vom Flughafen abholen. Außerdem sei er ja auch über Weihnachten da; wenn ich wolle, könne ich dann bei seiner Familie mitfeiern. Dann sei ich auch nicht allein.
Diese Zusage hat mir gereicht, also bin ich mal nach Brasilien geflogen (lacht). Dort angekommen, war der Kulturschock gar nicht so ohne: In den ersten ein, zwei Wochen habe ich mich teilweise auch am helllichten Tag nicht auf die Straße getraut. Aber dann habe ich gemerkt, dass bestimmte Regionen wohl doch sicher sind, wenn man einiges beachtet: Man hält z. B. kein Handy in der Hand und zeigt auch nicht, dass man eines dabeihat. Relativ schnell habe ich eine Erfahrung gemacht, dich mich total geprägt hat: Zwar hatte ich mich schon vorher damit auseinandergesetzt, dass es in Brasilien sehr viele Ungleichheiten gibt. Gespürt habe ich sie dann aber, als ein paar Leute aus dem Hostel in eine Favela (einen Slum) gehen wollten, über der sich eine Bar befindet. Dort halten sich nur schicke Menschen auf, weil die Aussicht so schön ist. Außerdem ist der Eintritt so teuer, dass die Menschen aus der Favela sich ihn niemals leisten könnten. Er entspricht dem, was ihnen für eine Woche zum Essen zur Verfügung steht. Zur Bar kommt man nur mit einem Motortaxi. Während ich darauf saß, dachte ich: „Ich will jetzt hier herunterspringen und eigentlich bei den Leuten vor Ort, in den Slums, sein.“ Auch in der Bar kam ich mir total fehl am Platz vor. Ich glaube, viele Leute haben an diesem Punkt eine gewisse Neugier.

Diese Bar ist etwas ganz anderes – auch etwas, um die eigene Sensationslust zu befriedigen: „Die armen Menschen schaue ich mir jetzt mal an …“ Ich aber wollte wirklich etwas über die Favelas erfahren. Zugleich war mir klar, dass ich nicht einfach vom Taxi herunterspringen konnte. Also habe ich nach dem Trip nach einer Möglichkeit gesucht, mich in einer Favela, in irgendeinem Projekt zu engagieren. Dabei habe ich eine Schule gefunden, die relativ nah an meinem Hostel lag. Der US-Amerikaner, der diese Schule aufgebaut hat, konnte tatsächlich freiwillige Helfer brauchen. Zu diesem Zeitpunkt habe ich allerdings zehn Sätze Portugiesisch gesprochen, wenn überhaupt. Wie sollte ich da helfen können? In der Einrichtung gibt es 30-40 Kinder. In den ersten zwei Wochen habe ich erst einmal ganz viel Kleinkindbetreuung gemacht. Mit der Zeit habe ich immer mehr Portugiesisch gelernt, weil sich auch im Hostel viele meiner angenommen und mit mir geredet haben.
Jeden Abend habe ich meine neu gelernten Wörter aufgeschrieben. Irgendwann konnte ich mich unterhalten, mehr in der Schule mithelfen und den Kleinen z. B. Englischunterricht geben. Die waren so süß: Zwischendurch haben sie immer wieder versucht, mir ganz geduldig zu erklären, was sie gerade auf Portugiesisch gesagt haben. Wir hatten dann auch eine Weihnachtsfeier zusammen, bei der wir bei 35 Grad nachts draußen Samba getanzt haben (lacht).
All das hat dazu geführt, dass ich mich total in Rio verliebt und die Stadt bis auf eine einwöchige Fahrt nach Salvador da Bahia gar nicht verlassen habe. Doch irgendwann lief mein Pass aus. Wegen Corona konnte er nicht verlängert werden. Also musste ich zurück nach Deutschland. Im März, genau 365 Tage nach meinem Start, bin ich gezwungenermaßen zurückgekommen. Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre ich länger geblieben. Mein Ziel ist klar: „zurück nach Brasilien, an eine deutsche Schule“.
Warum das so ist und wie Lena an diesem Ziel arbeitet, davon berichtet sie in MOMENT 1/2022 …

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